Pressemitteilung vom 04. Januar 2008
Zukunft endlich planen – Ein Aktionsprogramm der Migrant/innen: Leitlinien einer effizienten Integrationspolitik
Landesausländerbeirat schlägt Landesregierung neue Wege für 2008 – 2013 vor / Prinzip Chancengleichheit und Teilhabe
„Keine noch so aufgeregte Debatte löst die Probleme der Moderne, wenn sie nicht mit Zielen und Lösungen verbunden ist, die nachhaltig und im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens dieser Gesellschaft tragfähig sind." Mit diesen Worten hat heute der Vorsitzende des Landesausländerbeirates die Notwendigkeit neuer Wege in der Integrationspolitik betont. „Integration braucht mehr Chancengleichheit und Teilhabe in Hessen", ergänzte Yilmaz Memisoglu bei der Vorstellung des Aktionsprogramms zur Integrationspolitik in Hessen 2008 bis 2013 in Wiesbaden. Es ist eine Art Regierungsprogramm – mit seinen Inhalten könne deutlich mehr für Hessen und seine Entwicklung getan werden als mit Schaufensterpolitik.
Aus der leidigen Diskussion um kriminelle Jugendgewalt wird klar, dass Stigmatisierung und Ausgrenzung genau das Gegenteil bewirkten, so Memisoglu weiter. Allein in Hessen weist die Statistik einen kontinuierlichen und deutlichen Rückgang der Zahlen aus. Memisoglu: „Unter den jugendlichen Gewalttätern gab es Anfang der 90er Jahre noch fast 50 Prozent Migrantenkinder. Heute sind es weniger als ein Drittel. Das Thema wird als Geisterdebatte geführt, denn es gibt diesen für den Wahlkampf dramatisierten Trend nicht!" Integration erreiche man nicht durch mehr oder minder offene Hetze. Integration sei harte Arbeit und brauche neue Wege.
„Dem verbalen Zündeln setzen wir Regierungsideen entgegen", erklärt der Landesausländerbeiratsvorsitzende seine Initiative. „Wir haben das Aktionsprogramm schon vor Monaten angefangen, es ist in einen Leitlinienkatalog gemündet, den wir allen künftigen Regierungen Hessens wärmstens ans Herz legen.
Auf fünf Ebenen ist dringendes Handeln geboten:
1. Bildung und Ausbildung
Es ist eine dramatische Entwicklung, dass fast jeder fünfte Schüler mit Migrationshintergrund in Hessen die Schule ohne Abschluss verlässt. Und 35 Prozent aller ausländischen Jugendlichen unter 25 haben keine Berufsausbildung. Das kann nicht nur Versagen der Eltern sein, da läuft auch in der Gesellschaft etwas schief. Worte reichen nicht mehr. Wir fordern gezielte Förderungsstrategien und einen Paradigmenwechsel in der Schul- und Bildungspolitik mit mehr sozialer Einbindung von Migranten-Schülern in den Alltag einer Schule und in die Wirklichkeit von Betrieben. Vielleicht dient in der Wirtschaft eine vorgegebene, der statistischen Verteilung der Jugendlichen gerecht werdende Aufnahmequote.
Das muss diskutiert werden!
2. Arbeitsmarkt
Warum ist bei MigrantInnen die Arbeitslosigkeit so hoch? Warum muss das so bleiben? Warum nutzt niemand das vorhandene Potential, um aus den zahlreichen Benachteiligten die so dringend gebrauchten Fachkräfte zu machen? Sicher ist Arbeitslosigkeit zuallererst eine Frage der Bildungschancen. Die müssen gerechter gestaltet werden, noch mehr Stipendien müssen her – vor allem für ärmere Familien, und damit eben in großem Umfang für Nichtdeutsche. Dass Migrant/innen überproportional in Niedriglohnberufen vertreten sind, ist kein Naturgesetz, sondern eine gemachte Konstante der Wirtschaft. Wer Integration will, muss die Zugänge zu qualifizierten Arbeitsplätzen und Schlüsselpositionen für Ausländer entweder erleichtern oder schaffen. Statt nur Kombilohn-Ideen oder Mindestlohndebatten zu führen, wäre es vernünftig mehr Qualifizierung und Diversity Management in Behörden und Betrieben durchzusetzen, Projekte hierzu – die es vereinzelt gibt - flächendeckend zu etablieren.
Das muss diskutiert werden!
3. Vorurteilsfreies Zusammenleben
Das Wort Toleranz ist eine Hülse, sie muss mit Inhalt gefüllt werden. Sonst bleibt sie Ausdruck von Gleichgültigkeit. Das Aktionsprogramm schlägt die konsequente Umsetzung von Vernetzungen vor. In Wohnquartieren sollten Nachbarschaftsprogramme deutlicher als bisher unterstützt werden. Im Sport, in den Vereinen, in ländlichen Gebieten mithilfe der Kreisverantwortlichen müssen Stellen geschaffen werden, die Diskriminierung bekämpfen und interkulturelle Kompetenz durchsetzen und vorleben. So etwas muss man nicht von oben verordnen, aber Netze durch Mitteleinsatz unterstützen, das kostet den Staat Geld. Geld allerdings, das er Jahre später im Sicherheitsbereich, im Gefängnisbau, im Finanzieren des sozialen Desasters spart.
Kaum ein Thema, das die Menschen derzeit so polarisiert wie der Islam. Dem Anliegen und grundgesetzlich garantierten Recht der Muslime auf freie Religionsausübung stehen vielfach noch immer Unwissenheit, Ängste und Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Muslime beklagen eine mangelnde Anerkennungskultur und Diskriminierung aufgrund ihres Glaubens. Nichtmuslime aber auch Menschen mit Migrationshintergrund aus islamisch geprägten Herkunftsländern warnen vor der Entstehung von islamischen Parallelgesellschaften, gar einer Islamisierung Deutschlands oder befürchten den Verfall und die Aushebelung von Grundwerten und Grundrechten in einer demokratischen Gesellschaft.
Wir wollen daher, dass der Kultur des Misstrauens entgegengewirkt und die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das Grundrecht auf freie Religionsausübung gewährleisten, Diskriminierungen vorbeugen und die Anerkennungskultur fördern. Dazu gehören Projekte, die interreligiöse Konflikte abbauen, aber auch die rechtliche Anerkennung der muslimischen Glaubensgemeinschaften als Religionsgemeinschaften. Der Islam ist keine Gefahr für Deutschland und die Menschen.
Das muss diskutiert werden!
4. 4. Beratung
Integrationsberatung findet in Hessen faktisch nur noch für Neuzuwanderer statt. Migrant/innen, die schon lange in Deutschland leben, stehen seit der Streichung der Landesmittel 2004 quasi vor der Tür. Damit ist ein großes Loch ins Netz sozialer Hilfen für Menschen mit Migrationshintergrund gerissen, und zwar gerade da, wo Integrationsarbeit besonders wichtig wäre. Auch der Nationale Integrationsplan konstatiert einen „erheblichen nachholenden Integrationsbedarf" und bewertet ihn als „Aufgabe von nationaler Bedeutung". In der hessischen Praxis gerät gerade diese wichtigste Säule der Integrationspolitik ins Wanken. Eine nachholende und nachhaltige Integrationspolitik benötigt tragfähige und kontinuierliche Strukturen. Dazu gehört auch eine professionelle moderne Integrationssozialarbeit. Diese muss in Hessen wieder möglich sein. Richtig: Das kostet was. Aber: Desintegration kommt Migrantinnen und Migranten und die gesamte Einwanderungsgesellschaft allemal teurer zu stehen.
Das muss diskutiert werden!
Politische Teilhabe
Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth hat völlig Recht, eine Stadt lebt von ihren Bürgern. Und wenn sie schon einige Jahre da sind, müssen sie mitwählen dürfen. Ganz egal, woher sie kommen. EU oder nicht EU, das ist bis dato sublimierte europäische Apartheid. Wir sind eine Wertegemeinschaft, keine Blutsbrüderschaft! Demokratie lebt von Teilhabe, Integration ist eine moderne Richtschnur für die Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft. Respekt vor Minderheiten ist ein wesentliches Moment unseres Rechtsstaatssystems. Deshalb gilt es in jedem denkbaren Bereich Nichtdiskriminierung zu wollen und überzeugend durchzusetzen. Zum Beispiel im Ausländerrecht. Es geht uns nicht um besonderen Ausweisungsschutz, aber um besonderen Respekt. Empfundene Gleichheit ist viel Wert, das geht aber nicht mit einem drohenden und auf Abwehr gerichteten Ausländergesetz. Wir fordern Bundesratsinitiativen, die ein neues Migrantenrecht etablieren und wir wollen endlich mehr Mitbestimmung, als Ausländerbeiräte und als Menschen mit Wahlrecht.
Darüber lässt sich nicht diskutieren!"
Memisoglu abschließend: "Integration muss man wollen und ernst nehmen. Auch den neuen Herausforderungen der Globalisierung wird man durch Spaltung der Gesellschaft nicht Herr, abgesehen davon, dass unmenschliches Handeln und Reden nie eine Gesellschaft dauerhaft ausgehalten hat."